«Die Aussicht, der Blick auf den Horizont – jetzt sichtbar, jetzt in der Dämmerung – liess sie unberührt.Sie dachte an eine rasende Sonne. An ihr massloses Licht, das zuvor jene Grenze ausgelöscht hatte, die Erdoberfläche und Himmel markiert.Und sie vermutete, dass keine Trennung der Dinge gab, nur Unbestimmtheit und Unschärfe.»Nora Schmidt
Die Sonne – ihr unbändiges Licht und dessen Veränderlichkeit, welches das Textfragment von Nora Schmidt beschreibt – nimmt in mehreren Hinsichten eine besondere Rolle im Werk und Leben von Blanca Blarer ein. Immer wieder leuchtet sie in ihrer Arbeit zwischen Architektur, Skulptur und Installation auf. Die Sonne dient nicht zuletzt auch als Sinnbild für Blarers tiefe Verbundenheit mit dem Süden. Ihre spanischen Wurzeln sind unteranderem ein Grund dafür, dass die Künstlerin während vielen Jahren zwischen Ateliers in Zürich und Barcelona pendelt, und Spanien ein bedeutender Drehpunkt bleibt. Ihre Ausbildung beginnt zunächst an der Kunstakademie in Sevilla. Ein Jahr später zieht sie nach Wien an die Hochschule für Angewandte Kunst weiter, wo sie eine klassische Malereiausbildung unter Maria Lassnig absolviert.Bereits während dem Studium geht Blarers Interesse weit über diegegebenen Grenzen der Leinwand hinaus. Hingegen fügen sich diegrundlegenden Lektionen der Malerei – das Sehen, genaue Beobachten, dieakademische und handwerkliche Präzision – in einer eigenen künstlerischen Praxis. Die verschiedenen Stationen und Erfahrungen haben ihre räumlichen Interventionen sichtlich geprägt. Im skulpturalen Werk und den Kunst-und-BauProjekten erkundet und entfaltet Blanca Blarer mithin das Potenzial von Materialität, Licht, Bewegung und Raum. Ebendiese Formsprache derMöglichkeiten führen auch die Werke in der Ausstellung «Quiet Noise» vor Augen.Entlang der Wände sind fünf mehrteilige Arbeiten installiert. Ihnen gemeinsam ist die Konstruktion mittels einer Basisplatte und beweglichen Schwenktableaus, die sich dank Aluminiumgelenken einzeln auf- und zuklappen, schichten und positionieren lassen. Bestehend aus vier untereinander angebrachten Reihen grau lackierter Holzfaserplatten erschliesst Pavillon Gray Quartet (2020) das Grundprinzip dieser raumgreifenden Werke. Die Formsprache ist auf den ersten Blick einfach und nachvollziehbar. Doch bei eingehender Betrachtung zeigt sich die programmatische Komplexität der Wandskulptur. Dank den einzelnen Schwenktableaus ist sie so wandelbar, dass ihre Konfigurationsmöglichkeiten nicht nur unerschöpflich sondern geradezu unüberschaubar sind. Der Gegensatz zwischen zurückhaltender Materialität und impulsiver Grenzenlosigkeit spiegelt sich auch im gewählten Ausstellungstitel: Blanca Blarers Werke sind gleichzeitig laut und leise.Die beiden Formvorstellungen mögen sich prinzipiell entgegenstehen, doch sie eröffnen einen grossen Spielraum, in dem sich die Skulpturen verselbstständigen können. Jenseits ihrer eigenen Form sind es der umliegende Raum und das gegebene Licht, die einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung haben. Die beiden Arbeiten mit dem Titel Blackened (2020) und das Werkpaar Pavillon Gray Cristal (2020) zeigen, wie Licht und Raum mit dem Material und der veränderbaren Struktur interagieren. Neben den einzelnen Schwenktableaus aus Holz sind jeweils vier Glasplatten mit einem dünnen Messing-, respektive Aluminiumrahmen versehen.Nicht nur das Glas spiegelt den umliegenden Raum wider, sondern auch die leichtglänzenden und gemaserten Oberflächen des Acryllacks, mit dem die Holzplatten beschichtet sind. Wie ein Kaleidoskop reflektieren die spiegelnden Flächen mit unterschiedlicher Intensität das Licht zurück in den Raum. Die verschiedenen Grautöne, die den fünf Werken ihren Titel geben, weisen dank den vielfältigen Lichteinflüssen ein derart grosses Farbspektrum auf,das weit über die simple Farbbezeichnung hinausgeht.Diese subtile Art, die Form-, Material- und Farbeigenschaften hervorzuheben, fordert die Betracher*in auf, sich unterschiedlich zu positionieren und mit den Werken gleichermassen aus der Nähe und Ferne zu interagieren. Der gesamte Wahrnehmungsprozess wird verlangsamt, der Blick geschärft. Schattenwürfe, Spiegelungen und Farbveränderungen werden zu einem wichtigen, formbestimmenden Teil der Arbeiten. Die Wandskulpturen wandeln sich zu lebhaften Lichtstudien, deren Eigenschaften eingehend beobachtet und erforscht werden müssen.Als Forschungsobjekt könnte auch das Raummodell Dimpse (2020)bezeichnet werden. Ausgangspunkt für das auf einem Sockel präsentierte Modell ist der seitliche Ausstellungsraum der Galerie Mark Müller. Mit zwei identischen, raumhohen Wänden, die wie die anderen Werke in der Ausstellung schwenkbar sind, stellt die Künstlerin ein potenzielles Projekt vor: Die beiden Wände haben je nach Positionierung einen grossen Einfluss auf die Gesamtwahrnehmung des Raums, auf dessen Strukturierung und Lichteinfall. Mit minimalen Mitteln werden maximale Raumveränderungen ermöglicht. Das Modell ist gleichzeitig auch eine Denkfigur der Künstlerin, um mit kleinen Eingriffen nachhaltige Platzlösungen zu erproben.Mit ihren Werken konstruiert Blarer neue Orte. Es sind Zeiträume, in denen sich einzelne Teile durch Bewegung und Begegnung zu einem Ganzen fügen. Die aussergewöhnlichen Bildträger bedingen eine genaue Beobachtung,manchmal auch Geduld. Die Künstlerin schafft damit die Ausgangsbedingungen für eine eindringliche Seherfahrung, in der sich die Grenzen zwischen Werk und Raum zunehmend auflösen. «Schliesslich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir», wie der französische Philosoph und Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty 1961 im Essay Das Auge und der Geist schrieb. Er geht dem Verhältnis von Raum, Licht und deren Einfluss auf die Wahrnehmung weiter nach und folgert: «Es geht nicht mehr darum, vom Raum oder vom Licht zu sprechen, sondern den Raum und das Licht, die da sind, sprechen zu lassen.»Bei Blanca Blarer sind Raum und Licht förmlich hörbar – laut und leise zugleich.
Marlene Bürgi